Während die europäische Wirtschafts- und Währungsunion ursprünglich die Friedenssicherung und den Wiederaufbau vor Augen hatte, sind diese Themen für die meisten Europäer heute nicht mehr zentral. Vielmehr muss Europa eine neue Herausforderung adressieren: Entweder es entscheidet sich für eine deutlich stärkere, politische Integration, welche Europa von einem freien Staatenbund zu einem konstitutionellen Bundesstaat führt, oder es muss eine Entwicklung bis hin zur geopolitischen Irrelevanz akzeptieren. Letzteres würde Europas Zugang zu zentralen Ressourcen, wie Energie, Nahrung und Wasser erschweren sowie Finanzierungs- und Kapitalkosten deutlich erhöhen. Angesichts dieser Aussichten muss Europa in den nächsten 12 Monaten entscheidende Schritte vornehmen.
Eine erhöhte Defizitbereitschaft ist gefragt
Die populäre Meinung, dass sich die "verantwortungslosen" mediterranen Defizitstaaten einer reformpolitische Rosskur unterwerfen müssen, ist falsch: Zum einen, weil nicht nur steigende Staatschulden, sondern oft auch steigende Privatschulden zu der fragilen wirtschaftspolitischen Situation geführt haben. Zudem können nicht alle Länder innerhalb der Eurozone gleichzeitig eine Sparpolitik praktizieren, da ansonsten eine Rezession ausgelöst würde. Eine Sparpolitik in den Defizitländern kann somit nur dann erfolgreich sein, wenn sie durch eine erhöhte Defizitbereitschaft in den traditionellen Überschussländern abgefedert wird.
Dr. Burkhard P. Varnholt, Chief Investment Officer der Bank Sarasin & Cie AG
"Es ist ein populärer Irrglaube, dass das wirtschaftliche Schicksal von Gläubigern und Schuldnern voneinander unabhängig ist. Spätestens wenn ich jemandem eine Million Euro leihe und dieser Schuldner Konkurs geht, dann ist sein Problem auch mein Problem. Entsprechend sind auch die Schicksale der europäischen Defizit- und Überschussländer zwei Seiten derselben Medaille."
Die Währungsunion muss überleben
Damit europäische Politiker die notwendigen, längerfristigen Weichenstellungen vornehmen können, ist zunächst einmal entscheidend, dass die Währungsunion als Ganzes überlebt. Das Problem der europäischen Währungsunion besteht aber gerade in der Tatsache, dass seine 17 Mitgliedsländer auf keine eigene Zentralbank mehr zugreifen können, welche eine stabilitätsrelevante Versicherung aussprechen könnte. Dies ist der entscheidende Grund für die Tatsache, dass ein Land wie Spanien, welches tiefere Staatsschulden und ein geringeres Defizit als England aufweist, deutlich höhere Kreditzinsen als England zahlt. Der einfache Unterschied liegt in der Tatsache, dass England eine eigene Notenbank besitzt und Spanien nicht.
Langfristige Konsequenzen für Anleger
Auf dem Weg zum europäischen Bundesstaat werden noch einige bange Momente zu überwinden sein. Aus diesen Überlegungen gehen drei langfristige Konsequenzen für Anleger hervor: Erstens werden hypernervöse Politiker zu den wenigen "Quasi-Sicherheiten" gehören, auf die Anleger in den nächsten Jahren zählen können. Schon aus diesem einfachen Grund werden die "risikolosen" Zinsen in der Eurozone noch länger gegen Null tendieren als den meisten, renditesuchenden Anlegern lieb sein dürfte. Zweitens dürfte sich die Bewertungsschere zwischen Aktien und Staatsanleihen in den kommenden Jahren schliessen – und wahrscheinlich schon in den nächsten zwölf Monaten eine kräftige Erholung an den Aktienmärkten auslösen. Und drittens wird eine nachhaltig ausgerichtete Vermögensverwaltung für die risikobereinigte Performance von festverzinslichen Portfolios wie auch von Aktienportfolios immer wichtiger. In letzter Konsequenz geht diese Entwicklung auf die entscheidende Bedeutung der Nachhaltigkeit für den Auf- und Abstieg der Nationen und damit der Wirtschaft zurück. Gleichzeitig wird der Megatrend zur nachhaltigen Vermögensverwaltung auch die Corporate-Governance-Prinzipien, vor allem bei börsenkotierten Unternehmen, in diese Richtung beeinflussen.
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